Slawistik einst und jetzt

Die Slawistik als die Wissenschaft von den Kulturen, Sprachen und Literaturen der slawischen Länder hat in Österreich eine längere und intensivere Tradition als in jedem anderen nichtslawischen Staat der Erde.

Bereits im 16. Jahrhundert waren die Anfänge der neuzeitlichen Russlandkunde mit einem österreichischen Gelehrten, dem Diplomaten Sigmund Freiherr von Herberstein, verbunden, der im kaiserlichen Dienst mehrfach Russland besuchte und mit seinem Werk für Jahrhunderte die Einstellung Westeuropas zu Russland prägte. Auch der erste Lehrstuhl für Slawistik an einer Universität wurde in Österreich geschaffen – im Jahre 1849 in Wien, nachdem bereits unter Maria Theresia Wien und Wiener Neustadt Zentren der Bohemistik waren.

Vor nun schon rund 240 Jahren, am 7. Oktober 1775, wurde der Unterricht der tschechischen Sprache und Literatur und damit der ersten lebenden Sprache nach Deutsch an der Universität Wien eingeführt. Als erster Professor für tschechische Sprache und Literatur wurde an die Universität Wien Josef Valentin Zlobický  (1743–1810) aus Velehrad (Welehrad) in Mähren berufen. Er war es auch, der einen ersten Vorschlag für ein Studium der slawischen Sprachen ausarbeitete. Nach den Intentionen der Studienhofkommission an der Philosophischen Fakultät regten damals der Rechtsanwalt und Professor für Geschichte an der Universität Wien Matthias (Ignaz Mathes) Hess sowie der Piarist und Pädagoge Gratian Marx im Rahmen einer neuen philosophischen Studienordnung an, ein Begleitstudium mit lebenden Fremdsprachen zu installieren. Auf der Grundlage des Tschechischen erstellte Zlobický daraufhin einen Plan für ein Studium der slawischen Sprachen, wofür an der Universität ein Slawisches Institut geschaffen werden sollte. Dieser Entwurf eines slawischen Instituts konnte nach mühevoller Suche im Wiener Staatsarchiv ausfindig gemacht und der Öffentlichkeit in edierter Form zur Verfügung gestellt werden (Vintr – Pleskalová 2004, 238–242). Das geforderte Slawische Institut wurde damals zwar in Wien nicht errichtet, an der Universität kam es jedoch sehr wohl zur Errichtung des weltweit ersten Lehrstuhls für den Unterricht der tschechischen Sprache und Literatur.

Zlobickýs Plan galt im Übrigen auch für den Unterricht anderer lebender Sprachen, so etwa bei der Einführung der romanischen Sprachen an der Universität Wien, als verbindliche Richtschnur. Seine Methode der Sprachvermittlung war für die damalige Zeit revolutionär. Die Zuhörer sollten parallel zu den Sprachkursen Vorlesungen aus Landeskunde, der Geschichte des Landes sowie der Sprach- und Literaturgeschichte absolvieren (beim Tschechischen im Vergleich zu weiteren slawischen Sprachen, vor allem den west- und südslawischen). Die Grammatik war auf ein Kompendium der allernotwendigsten Regeln zu reduzieren, vielmehr sollten sich die Studenten die Sprache spontan aufgrund von aktuellen Beispielen und im Kontext zu den Realien aneignen können, um so neben der Sprache besonders „das Genie, das Eigene unserer Nation“ (Zlobický, ediert in Vintr – Pleskalová 2004, 242) kennen zu lernen.

Zlobickýs Konzeption erinnert in kongenialer Entsprechung an die originelle und schlüssige Betrachtungsweise eines fruchtbringenden Fremdsprachenunterrichts durch Johann Gottfried Herder, die sich dieser schon 1769 in sein Reisetagebuch notiert hatte. Während aber das Manuskript von Herders Journal erst 1810 in Auszügen veröffentlicht wurde und unmittelbar nie Wirkung entfalten konnte, gelang es Zlobicky die Obrigkeit bereits um ein Viertel Jahrhundert früher für seine Methode zu interessieren (Gugler 1995, 132; Vintr – Pleskalová 2004, 104f.). „Zlobickýs Entwurf sollte sich für immer in die Geschichte der Philologie einreihen – als erstes universitäres Studienprogramm der Slawistik und als ein Vorbild für das Studium der lebenden Fremdsprachen.“ (Vintr – Pleskalová 2004, 105).

Zlobický wurde in den universitären Vorlesungsverzeichnissen als Professor geführt, diesen Titel benutzten auch er selbst und seine Freunde. Er unterrichtete anfangs drei, später vier Stunden wöchentlich. Als Lehrer dürfte er sich nach zeitgenössischen Berichten großer Beliebtheit erfreut haben. 

Mit der österreichischen Slawistik sind viele klangvolle Namen verbunden, so unter anderem Franz von Miklosich, der erste Wiener Lehrstuhlinhaber, oder einer seiner Nachfolger in der Zwischenkriegszeit, Fürst Nikolaj Trubeckoj.

Heute ist die Wiener Slawistik die weltweit größte Forschungs- und Lehrstätte für slawische Sprachen, Literaturen und Kulturen. Das Institut genießt aufgrund seiner thematischen Breite in Forschung und Lehre international höchstes Ansehen und gehört in mehreren Forschungsbereichen zu den international führenden Forschungsinstitutionen. Einen besonders wichtigen Beitrag leistet das Institut auf einigen Gebieten, die sonst international und im deutschsprachigen Raum deutlich unterrepräsentiert sind, nämlich im Bereich der Ukrainistik, Bohemistik, Slowakistik, Balkanologie und Bulgaristik

 

Quelle: Österreichische Gesellschaft für Slawistik und Stefan Michael Newerkla auf Basis von

Gugler, Otto Michael (1995): Zensur und Repression. Literatur und Gesellschaftsbild im Zeitalter des Spätjosephinismus. Dissertation an der Universität Wien.
und
Vintr, Josef – Pleskalová, Jana (Hrsg.) (2004): Vídeňský podíl na počátcích českého národního obro­zení – J. V. Zlobický (1743–1810) a současníci: život, dílo, korespon­dence. / Wiener Anteil an den Anfängen der tschechischen nationalen Erneuerung – J. V. Zlobický (1743–1810) und Zeitgenossen: Leben, Werk, Korrespondenz. Praha.